Ein Amateurfotograf sieht Europa um 1900
Das Bildarchiv
Im Jahr 2022 konnte das Stadtarchiv Bielefeld eine einzigartige Fotosammlung aus den eigenen Beständen digitalisieren und der Öffentlichkeit zugänglich machen: das Bildarchiv Hermann Albrecht Insinger.
Das Bildarchiv umfasst ca. 5.500 Negative, darunter mehr als 2.000 Stereofotografien, mit Motiven aus Süd- und Mitteleuropa im Zeitraum von 1889 bis 1905.
Der Schwerpunkt liegt mit ca. 1.200 Aufnahmen in Paris, wo auch besondere Ereignisse (über 400 Aufnahmen der Weltausstellung 1900 einschließlich der Auf- und Abbauarbeiten Weltausstellung 1900 mit Vorbereitungen und Abbau; Staatsbegräbnisse, Militärparaden, Feiern zum Nationalfeiertag am 14. Juli, Feste, Karnevalsumzüge; Gebäudeabbrüche) abgelichtet wurden.
Darüber hinaus enthält der Bestand Fotografien aus über 200 weiteren Städten, Orten und Landschaften in Frankreich, Italien, der Schweiz, den Niederlanden und Deutschland sowie einige wenige Aufnahmen aus Spanien, Österreich und Großbritannien. Die Aufnahmen zeigen überwiegend Stadtansichten, Gebäude, Plätze und Landschaften ebenso wie Straßenszenen, Alltags- und Arbeitssituationen, Prozessionen, Märkte, Feste und eine Vielzahl an Personenaufnahmen (Einzel- oder Gruppenporträts sowohl namentlich bekannter Personen aus dem Umfeld des Fotografen als auch unbekannter, an den diversen Orten lebenden Menschen unterschiedlicher sozialer Schichten und Berufsgruppen). Darüber hinaus dokumentieren die Fotos auch zeitgenössische Moden, lokale Trachten und Mobiliar.
Der Urheber
Urheber der Fotos ist der Niederländer Hermann Albrecht Insinger (1827-1911), ein Kaufmann, Politiker und Amateurfotograf aus Amsterdam. Nach seinem Rückzug aus dem aktiven Berufsleben zog er 1888/1889 nach Paris, wo er bis zu seinem Tod als Privatier lebte und ein Appartement im 8. Arrondissement, 86 Boulevard Haussmann bewohnte.
Wie viele seiner Zeitgenossen widmete sich Insinger in seinen späteren Lebensjahren mit Begeisterung der Fotografie und der Stereoskopie, die in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts aufgrund vereinfachter Herstellungsverfahren und der Einführung neuer Kameras einen rasanten Aufschwung erlebten und von einer stetig wachsenden Zahl an interessierten Amateuren – insbesondere aus dem wohlhabenden Bürgertum – betrieben wurden.
Als Experimentierfeld dienten ihm sowohl sein unmittelbares Lebensumfeld in Paris, als auch die Orte, die er auf seinen zahlreichen Reisen besuchte. Wie für ein Mitglied des gehobenen Bürgertums seiner Zeit üblich, führten ihn seine Reisen, die er mit dem Zug zurücklegte, vor allem in die See- und Kurbäder an der französischen Atlantikküste, in die Alpen und an die Seen in der Schweiz und Oberitalien, nach Venedig und an die Cote-d’Azur. Unterkunft nahm Insinger stets in einigen der seinerzeit luxuriösesten Hotels.
Die während dieser oft mehrwöchigen Aufenthalte entstehenden Aufnahmen, zu großen Teilen von hoher technischer Qualität, sind dabei weit mehr als private Erinnerungsfotos. Sie zeigen ein beeindruckendes Panorama des Lebens der sog. Belle Époque, ihrer Arbeitswelten und Moden. Sie überliefern das - heute zum Teil verlorene - Erscheinungsbild diverser Städte zur Zeit der vorletzten Jahrhundertwende und geben zugleich umfangreiche und persönliche Einblicke eines Zeitzeugen in bedeutende historische Ereignisse. Zugleich dokumentieren sie auf vielfältige Weise die Anfänge des touristischen Reisens im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert.
Wie die Fotosammlung ausgerechnet nach Ostwestfalen kam? Sehr wahrscheinlich erfolgte der Zugang in das Stadtarchiv (eine entsprechende Eingangsdokumentation fehlt) in den 1950er Jahre aus dem Nachlass von Insingers Tochter Charlotte. Charlotte Insinger (1862-1954) hatte 1887 in Amsterdam den deutschen Pastor Johannes Gottlieb Friedrich Rahn (1851-1921) geheiratet. 1895 zog die Familie nach Bielefeld-Bethel, wo Johannes Gottlieb Friedrich Rahn eine Anstellung als Leiter des Kandidatenkonvikts erhalten hatte. Charlotte Rahn geb. Insinger verstarb schließlich 1954 in Bielefeld-Dornberg.
Digitalisierung und Erschließung mittels Crowdsourcing
Die professionelle Digitalisierung der ausgesprochen sensibel zu behandelnden Negative erfolgte extern durch den Bonner Dipl.-Fotografen Jürgen Seidel.
Bei der systematischen Erschließung des Bestandes setzte das Stadtarchiv aufgrund der geographischen Vielfalt der Fotomotive erstmals auf den kollaborativen Ansatz des sog. Crowdsourcing. Hierzu wurden die Digitalisate auf der frei zugänglichen Fotoplattform Flickr online gestellt. Parallel dazu wurden gezielt interessierte Nutzer*innen sowie Archive und andere Institutionen und Vereine in den jeweils fotografisch dokumentierten Orten und Ländern angesprochen und als Expert*innen zur Identifizierung der Motive sowie als Multiplikatoren für den Erschließungsprozess aktiviert.
Nach wie vor freut sich das Stadtarchiv über Mithilfe bei der Beschreibung der Fotomotive.
Wenn Sie das Bildarchiv kennenlernen und dem Stadtarchiv bei der Erschließung der Fotos helfen möchten, dann besuchen Sie die Flickr-Seite des Bildarchivs (https://www.flickr.com/photos/195334926@N04). Können Sie nähere Angaben zu den Motiven machen? Erkennen Sie bestimmte Orte, Ereignisse, Bauwerke oder sogar Personen? Haben Sie Hinweise zur angewendeten Fototechnik? Dann freuen wir uns über Ihre Hinweise.
Wenn Sie über einen Flickr-Account verfügen (die Registrierung ist kostenlos), können Sie direkt auf der Seite Kommentare oder Geotags hinterlassen. Ansonsten senden Sie ganz einfach eine Mail mit Ihren Anmerkungen und Fragen an: bildarchiv-insinger@bielefeld.de
Die vollständige Digitalisierung des Bildarchivs Hermann Albrecht Insinger wurde gefördert im Rahmen von
„WissensWandel. Digitalprogramm für Bibliotheken und Archive innerhalb von NEUSTART KULTUR des Deutschen Bibliotheksverbands e.V. (dbv). Gefördert durch die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien.“